

Schöne neue Marketingwelt?
Wer sich im Wettbewerb behaupten will, braucht innovative Denkansätze und neue Ideen – das gilt besonders in der Werbung. Und wenn Marketingexperten mit Technologien experimentieren, können die Ergebnisse überraschend sein.

Wer Twitter auch auf Englisch nutzt, erinnert sich vielleicht noch an Tay, Microsofts schlecht trainierten KI-Chatbot, der 2016 mit rassistischen und sexistischen Sprüchen eine öffentliche Kontroverse auslöste und nach nur 16 Stunden aus dem Web verschwand. Tay war ein typisches (wenn auch kurzlebiges) Beispiel dafür, was alles möglich ist, wenn Marketing und Technologie ineinandergreifen. Tatsächlich gab es schon viel gewagtere Ideen als Tay.
Wir haben für Sie ein paar Beispiele dafür zusammengestellt, was die Begeisterung für diesen Mix aus Marketing und Technologie (kurz „MarTech“) bei kreativen Köpfen so auslösen kann. Übrigens: Die meisten dieser ungewöhnlichen Konzepte haben das Brainstorming überlebt und wurden sogar in irgendeiner Form in die Tat umgesetzt.

Haben Sie sich auch die Hände gewaschen?
Anbieter von Sprachassistenten wie Amazon und Google behaupten, dass ihre Geräte unseren Worten nur bei direkter Ansprache lauschen, Aufzeichnungen nicht dauerhaft gespeichert werden und nichts von dem Gesagten später für Marketingzwecke dient. Ob das stimmt, sei dahingestellt, denn neuere Patentanmeldungen lassen eine eher dystopische Zukunft erahnen, in der smarte Sensoren die Daten für recht aufdringliche Marketingmethoden liefern könnten.
Dazu gehören z. B. Technologien, die die Stimmung einer Person an ihrer Tonlage erkennen und für gezielte Werbung in anderen Medien analysieren können. Andere Technologien verfolgen alle Aktivitäten im Haushalt, die ein Geräusch erzeugen (auch ohne zuerst „Hey Siri“ oder „Alexa“ gesagt zu haben), einschließlich Mahlzeiten und Toilettenspülungen.
Mit solchen Technologien lassen sich lernfähige Geräte entwickeln, die wissen, wer wann das Haus betritt oder verlässt, wann alle im Haushalt aufstehen und schlafen gehen, welche Interessen sie haben und worüber sie sich unterhalten. Google hat sogar eine Technologie für seine Überwachungskamera Google Nest patentiert, die erfasste Videobilder – z B. ein Buch auf dem Nachttisch, ein Fußball in Kinderhänden oder ein Logo auf einem T-Shirt – mit dem Browserverlauf des Kamerabesitzers verknüpft und ihm dann noch persönlichere Online-Werbung präsentiert.
Obwohl die Datenschutzrichtlinie von Google mittlerweile 32 Seiten lang ist, kommentiert der Konzern dies lapidar mit: „Es werden nur Daten genutzt, deren Erfassung Sie zugestimmt haben.“

Wenn das Werbeplakat uns nachspioniert
Plakatwerbung ist bislang ein unidirektionales Marketingtool, also eine „kommunikative Einbahnstraße“: Werbetreibende können bislang nicht wissen, wer das Plakat im Verlauf eines Tages, einer Woche oder eines Monats überhaupt wahrgenommen hat. Das auf Außenwerbung spezialisierte Unternehmen Clear Channel wollte das 2016 ändern und die Signale von Mobiltelefonen nahe einer Plakatwand erfassen. Daraus wollte man ableiten, wer die Werbung gesehen und danach z. B. das beworbene Produkt gekauft oder in den sozialen Medien erwähnt hatte.
Die gute Nachricht: Offiziell sammelt diese Technologie keine personenbezogenen Daten, sondern lediglich „anonyme Standortdaten von Mobilgeräten, die zur Verbesserung der Wirkung und Messung von Außenwerbung dienen.“ Und die schlechte Nachricht: Das System hat die Konzeptphase längst verlassen und wird in den USA bereits eingesetzt. Das bedeutet, dass Verbraucher damit stärker als je zuvor überwacht werden können – auch dort, wo man sich bislang völlig unbeobachtet fühlte.

„Wir unterbrechen diesen Traum für eine Werbepause“
Unterschwellige Werbung – Stichwort „Subliminal Messaging“ – ist jetzt nicht gerade eine neue Erfindung: Schon 1957 blendete der Marktforscher James Vicary in US-Kinos unbemerkbare Handlungsaufforderungen wie „Iss Popcorn“ oder „Trink Coca-Cola“ für eine 1/24 Sekunde in Filmen ein. Dahinter steckte die Idee, dass Kinobesucher diese ultrakurzen Messages unterbewusst wahrnehmen und dann entsprechend handeln.
Tatsächlich haben solche unterschwelligen Stimuli nachweislich eine gewisse Wirkung auf uns. Eine Forschergruppe ging 2021 bei dieser Einflussnahme noch einen Schritt weiter und versuchte, Werbung in den Träumen schlafender Probanden zu schalten. Dafür entwickelten die Wissenschaftler das System Dormio, „einen interaktiven Social-Roboter mit individuell anpassbarem Sensor zur Erfassung von Schlafphasen und auditivem Bio-Feedback“, der Informationen aus „hypnagogen Mikroträumen“ extrahieren und beeinflussen kann.
Natürlich wurden Marketingexperten sofort hellhörig, darunter die US-Brauereigruppe Molson Coors, die beim Super Bowl 2021 einen Werbespot schaltete, dessen Bilder zu Träumen über Bier anregen sollten. Zwar ist nicht bekannt, ob Molson Coors den Erfolg dieser Kampagne je auf wissenschaftlich signifikante Weise gemessen hat, doch die Verkaufszahlen stiegen im Folgejahr immerhin um 14,2 Prozent.
Trotz heftiger Kritik an der kommerziellen Nutzung wollen einer Studie zufolge 77 Prozent der befragten Marketingexperten diese „traumhafte“ Beeinflussung in den nächsten drei Jahren in der Praxis einsetzen.
Gedankenlesen für den Umsatz: Marketing als Wunscherfüller
Wesentliche Fortschritte bei Brain-Computer Interfaces (BCI), also Schnittstellen zwischen dem menschlichen Gehirn und dem Prozessor eines Computers, erleichtern Amputierten die Steuerung ihrer Prothesen. So können zum Beispiel querschnittsgelähmte Menschen besser kommunizieren und Blinde wieder sehen. Es überrascht kaum, dass diese Technologie auch im Marketing und in der Verkaufsförderung auf großes Interesse stößt.
Die Idee dahinter: Ihr Gehirn vernetzt sich über das BCI direkt mit Ihrem Smartphone oder Computer, damit Sie Befehle per Gedankenübertragung geben können – ob Surfen im Internet, Verwendung von Anwendungen oder die Nutzung sozialer Netzwerke.
Für Marketingprofis wäre so etwas eine Goldgrube: Denkt jemand z. B. an einen Hamburger, könnte eine Fast-Food-Kette ihm sofort einen Gutschein aufs Handy schicken. Trägt er außerdem eine Augmented-Reality-Brille, könnte man ihm auch gleich den Hamburger in appetitanregenden Bildern präsentieren. Per BCI wäre es sogar möglich, den Hamburger zu bestellen und zu bezahlen, ohne dafür das Smartphone oder die EC-Karte in die Hand nehmen zu müssen.
Mehrere Unternehmen arbeiten aktiv an solchen Konzepten, wobei sich BCI-Geräte derzeit eher für die Marktforschung und Marketingstudien als für die Werbung eignen.
Aber das kann sich ändern, fest steht: Wir dürfen gespannt sein, was die Zukunft bringen wird.