

Das Ende von Drittanbieter-Cookies: Was kommt als Nächstes?
Im Jahr 1994 konzipierte Lou Montulli, ein Programmierer bei Netscape, eine winzige Textdatei, die sich als eine der folgenreichsten Erfindungen des digitalen Zeitalters erweisen sollte. Die von ihm fortan als „Cookie“ bezeichnete Datei konnte von einer Website auf dem Computer eines Besuchers gespeichert werden und bei allen Folgebesuchen zur Wiedererkennung dienen, um diese Besuche als zusammenhängende Ereignisse zu gruppieren.
In der Anfangsphase nutzten Websites derartige Erstanbieter-Cookies vor allem dazu, sich Benutzerpräferenzen wie die Sprache, den Benutzerstandort oder den aktuellen Inhalt des Warenkorbs zu merken. Doch kaum zwei Jahre später, als sich Microsofts Internet Explorer die ersten Marktanteile von Netscape sicherte, wurde diese Grundidee bereits weiterentwickelt.
Die sogenannten Drittanbieter-Cookies erlaubten nun die Nachverfolgung der Aktivitäten des jeweiligen Benutzers über mehrere Websites hinweg. Es ließ sich recht genau protokollieren, welche weiteren Seiten ein Benutzer nach dem Besuch der ersten Website aufrief. Dadurch konnten Unternehmen Benutzerinteressen viel leichter katalogisieren, den Erfolg von Werbeanzeigen beurteilen und detaillierte Verhaltensmuster identifizieren.
Werbetreibende erkannten schnell die Vorteile dieser Methode und machten sich Drittanbieter-Cookies zunutze, um die Interessen potenzieller Käufer geräteübergreifend in Echtzeit und in großem Umfang zu erfassen und zu analysieren. Dabei gab es nur ein Problem: Die Betroffenen wussten nichts davon.

Das Ende einer Ära
Fast drei Jahrzehnte später will Google nun die von Montulli ungewollt geschaffene Datenschutzlücke schließen – damit sind die Tage von Drittanbieter-Cookies gezählt.
Im Zuge seiner Privacy Sandbox-Initiative von 2019 wird Google ab Ende 2023 in seinem verbreiteten Chrome-Browser nach und nach den Support für Drittanbieter-Cookies einstellen. Als Ersatz ist eine neue Topics-API vorgesehen, die mithilfe von maschinellem Lernen Benutzer anhand der von ihnen besuchten Websites kategorisiert und gleichzeitig alternative Methoden der Benutzerverfolgung einschränkt. So soll unter anderem die Identifizierung eines Benutzers anhand seines Gerätes („Device Fingerprinting“) unterbunden werden.
Diesen Schritt geht Google jedoch nicht ganz freiwillig. Neue gesetzliche Regelungen, einschließlich der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (ePrivacy-Verordnung), haben die Vorgaben hinsichtlich der Verwendung von Cookies verschärft. Insbesondere die ePrivacy-Verordnung, die oft als „EU-Cookie-Gesetz“ bezeichnet wird, verpflichtet Websites dazu, von Benutzern in der EU vorab die Zustimmung zum Einsatz von Cookies einzuholen.
Auch in kommerzieller und technischer Hinsicht steht Google unter Druck. Mit Werbeblockern und konkurrierenden Browsern wie Apples Safari und Mozilla Firefox, der Nachfolger von Netscape, lassen sich Drittanbieter-Cookies standardmäßig blockieren, wodurch sie ihren Nutzen für Werbetreibende verlieren.

Ersatz für Drittanbieter-Cookies
Welche Folgen hat das Aus der Drittanbieter-Cookies für die durch sie entstandene Data-Mining-Branche? „Die Meinungen gehen auseinander“, so Philip Acton, Manager der Werbeplattform Adform im Vereinigten Königreich. „Die eine Hälfte spricht von einer schwierigen Herausforderung, die andere Hälfte erkennt eine aussichtsreiche Chance zur Entwicklung neuer Lösungen, die gesetzeskonformer und benutzerfreundlicher sind.“
Zur ersten Hälfte gehören auch deutsche Verlage wie die Axel Springer SE. Erst kürzlich reichte die Verlagsgruppe Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein und warf Google vor, mit dem geplanten Verbot von Drittanbieter-Cookies seinen eigenen Einflussbereich in der Werbebranche ausweiten zu wollen und gegen geltendes EU-Recht zu verstoßen.
Nach Ansicht von Acton hat die Branche drei Optionen. Die erste besteht darin, den Status quo beizubehalten. Das heißt, es wird Benutzern weiterhin Werbung basierend auf ihren inhaltlichen Präferenzen angezeigt.
Die zweite Option liefert Google Topics. Hierbei handelt es sich um eine Überarbeitung der kontextbezogenen Methodik, jedoch mit einem wichtigen Knackpunkt: „Chrome fungiert als eine Art Türsteher. Wie so oft nimmt Google zwar Änderungen vor, behält aber schlussendlich die Kontrolle über alles“, erklärt Acton.
Die Datenqualität könnte bei der Vorgehensweise von Google ein einschränkender Faktor sein. „Die Daten, die Sie bei Ihren Werbekampagnen erhalten, werden wahrscheinlich mit Daten von anderen Unternehmen und potenziellen Mitbewerbern zusammengeführt“, warnt er.

Daten aus erster Hand
Somit bleibt die dritte Option: Daten, die durch Unternehmen und Publisher selbst erfasst werden, nämlich implizit mit Erstanbieter-Cookies und explizit bei der Übermittlung durch die Benutzer. Derartige Daten sind beständiger und sofern die Zustimmung zur Benutzerverfolgung vorliegt, gibt es diesbezüglich auch kein Problem. Obendrein dienen Erstanbieter-Cookies als nützliche Datenquelle für programmatische Werbung. Analysen von Adform zufolge erfreut sich diese Option in der EU bereits ebenso hoher Beliebtheit wie die Drittanbieter-Variante.
Eine Herausforderung ergibt sich in diesem Fall jedoch durch unterschiedliche Arten der First Party ID (z. B. IDs von Publisher-Konsortien, probabilistische IDs und authentifizierte IDs). Als Reaktion darauf ergänzte Adform seine Flow-Plattform um ein neues Feature namens „ID Fusion“, das den Umgang mit mehreren IDs erleichtert.
Für Acton ist die Sache klar: Wer sich schlicht auf Google verlässt, begibt sich damit in eine potenziell kostspielige Abhängigkeit vom Ad-Framework des Konzerns. Diversifizierung ist entscheidend. „Die Werbetreibenden und Technologiepartner, die sich stärker auf Erstanbieter-Daten konzentrieren, werden sich im Vergleich zu treuen Google-Nutzern an die Spitze setzen“, prognostiziert er.


Der Omnichannel-Traum
Jacqueline Leng, VP of Global Solutions des Datenmarketing-Unternehmens Kinesso, sieht im Übergang zu Erstanbieter-Daten ebenfalls einen Schritt in die richtige Richtung, fordert von der Branche aber eine multidimensionale Herangehensweise. So müsse das Omnichannel-Konzept besser unterstützt werden, bei dem anhand mehrerer Kanäle (Mobilgerät, PC, Telefon, klassisches Ladengeschäft) ein ganzheitliches Verständnis der Kunden gewonnen wird.
„Die größte Herausforderung besteht in der Veranschaulichung der typischen Consumer Journey“, sagt Leng. Benötigt wird eine Lösung, die all die Datenquellen über die verschiedenen Kanäle hinweg miteinander verknüpft. „Die Frage ist, wie eine solche Lösung aussehen könnte.“
Drittanbieter-Cookies erfüllten diese Aufgabe hervorragend. Die Branche wird Erstanbieter-Alternativen künftig deutlich effizienter nutzen müssen, um diese neu entstandene Lücke zu schließen.
In der Zwischenzeit könnten die neuen gesetzlichen Vorgaben zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen führen.
„Zwar haben die Verbraucher nun ein stärkeres Mitspracherecht, doch gleichzeitig werden auch die großen Plattformen – die ‚Walled Gardens‘ – gestärkt“, betont Leng. „Google wird immer mächtiger, während die kleinen Anbieter auf der Strecke bleiben. Deswegen steht auch Facebook unter Druck und hat sich von seiner einzelnen App hin zum Metaversum umorientiert.“

KI als Rettung?
Während die Cookie-Debatte noch läuft, drängen bereits neue Technologien wie die künstliche Intelligenz (KI) ins Bild, die den Omnichannel-Ansatz unterstützen könnten. Auch die Vision von Google dreht sich im Kern genau darum.
„Wir lehnen Tracking und jegliche Form der Profilbildung ab“, sagt Colin Hayhurst, CEO der britischen Start-up-Suchmaschine Mojeek, die den Datenschutz zur Priorität erklärt. Bei der Schaltung von Werbeanzeigen nutzt das junge Unternehmen stattdessen kontextbezogene Daten. Obwohl Mojeek im Vergleich zu Google oder Bing nur ein kleiner Fisch ist, zeigt sich Hayhurst von seiner Herangehensweise überzeugt.
„Die Absichten der Benutzer sind in den Suchanfragen zu finden. Bezieht man noch Standortdetails und Spracheinstellungen ein, lassen sich relevante Anzeigen schalten“, ergänzt er.
So gebe es keinen Grund, den Datenschutz zu vernachlässigen. Zudem sei diese einfache Form kontextbezogener Werbung nur der Anfang: „Maschinelles Lernen ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass wir kontextbezogene Werbung auch außerhalb von Suchmaschinen ausführen können.“
Wahrscheinlich entspricht dies in etwa dem Gedankengang, den Google mit Topics verfolgt, denn dieses riesige algorithmische Werbesystem soll auch subtile Kontextänderungen erkennen, wenn Benutzer von einer Webseite zur nächsten browsen.
„Ich denke, demnächst werden sich immer mehr Start-ups an kontextbezogene Werbung heranwagen“, sagt Hayhurst. „Würde ich heute ein neues Unternehmen gründen, läge mein Schwerpunkt auf kontextbezogenen Anzeigen für Publisher.“

Zurück in die Zukunft
Ironischerweise erinnert dies an die Haltung von Google, als der Konzern 1998 die Websuche revolutionierte. Montulli hatte zwar das Cookie-Konzept erfunden, auf das sich Werbetreibende und Publisher begierig stürzten, doch erst mit dem Aufstieg von Google über Desktop- und Mobilgeräte hinweg nahm die ganze Geschichte richtig Fahrt auf.

Seitdem haben sich die verfügbaren Tools aber weiterentwickelt. KI ist heute Teil unseres Alltags und eine vielversprechende Alternative zu jenen kleinen Tracking-Dateien, die das Onlineverhalten von Benutzern nachverfolgen.
Da Aufsichtsbehörden mittlerweile die Vormachtstellung von Google immer öfter ins Visier nehmen, bleibt dem Konzern nicht viel Handlungsspielraum. Dem Giganten der Werbebranche droht ein herber Rückschlag und für alle anderen bricht möglicherweise ein goldenes Zeitalter an.